Arzt haftet für Diagnosefehler, nicht für Diagnoseirrtum

von Rechtsanwalt, Fachanwalt für Medizinrecht Rainer Hellweg, armedis Rechtsanwälte, Hannover, www.armedis.de

Häufig geht es in Haftungsprozessen um die Fragen: Bis wohin reicht der nicht haftungsrelevante Diagnoseirrtum und wo beginnt der haftungsbegründende Diagnosefehler? Oder wurde vielleicht eine gebotene Erhebung weiterer Befunde unterlassen? Interessante Erkenntnisse hierzu bietet ein aktuelles Urteil des Oberlandesgerichts (OLG) Hamm vom 29. Mai 2015 (Az. 26 U 2/13).

Der Sachverhalt 

Gemäß der Pressemitteilung des Gerichts ging es um den Fall einer Patientin, der eine Spirale zur Empfängnisverhütung eingesetzt wurde. Die Verhütung funktionierte aber nicht: Zwei Jahre später wurde die Patientin schwanger und gebar eine gesunde Tochter.Die Patientin und ihr Lebensgefährte verklagten den Gynäkologen, der die Spirale eingesetzt hatte. Sie verlangten Schadenersatz mit der Begründung, der Gynäkologe hätte in ihrem Fall vom Einsetzen einer Spirale absehen müssen. Er hätte im Rahmen der seinerzeit durchgeführten Ultraschallkontrolle eine bei der Patientin vorliegende Anomalie einer doppelten Anlage von Vagina und Uterus erkennen müssen. Bei solch einer Anomalie könne eine Spirale keine verhütende Wirkung entfalten. Als Schaden geltend gemacht wurden ein Schmerzensgeld in Höhe von 5.000 Euro, Verdienstausfall von circa 28.000 Euro sowie Unterhalts- und Betreuungskosten für die Tochter bis zum Eintritt der Volljährigkeit.

Noch in erster Instanz war der Klage im Wesentlichen stattgegeben worden. Im Berufungsverfahren jedoch gab das OLG Hamm dem Gynäkologen recht und wies die Klage ab.

Kein Befunderhebungsfehler ... 

Im ersten Schritt argumentierte das Gericht, der Gynäkologe habe alle Untersuchungen vorgenommen, die nach dem einzuhaltenden medizinischen Standard im Zusammenhang mit dem Einsetzen der Spirale geboten gewesen seien. Insofern sei das Vorliegen eines Befunderhebungsfehlers zu verneinen. Für die bei der Patientin vorliegende Anomalie hätten zuvor keinerlei Hinweise bestanden, sodass der Gynäkologe nach dieser nicht habe mit besonderem Fokus fahnden müssen.

... und auch kein Diagnosefehler! 

Auch das Vorliegen eines Diagnosefehlers verneinte das OLG. Das Gericht stellte klar, dass ein Arzt, der aus vollständig erhobenen Befunden einen falschen Schluss ziehe, lediglich einem Diagnoseirrtum unterliege. Ein solcher Irrtum sei aber im Gegensatz zu einem Diagnosefehler nicht haftungsbegründend.

Ein Diagnosefehler komme nur dann in Betracht, wenn die Diagnose im Zeitpunkt der medizinischen Behandlung aus der Sicht eines gewissenhaften Arztes medizinisch nicht vertretbar sei.

Im beschriebenen Fall sei ein Diagnosefehler nach den Gutachten der Sachverständigen nicht feststellbar gewesen. Dass er die Anomalie der Patientin nicht erkannt und von einer regelhaften anatomischen Anlage ausgegangen sei, sei dem Gynäkologen nicht vorzuwerfen. Denn die Anomalie der Patientin sei extrem selten. Zudem sei diese Anomalie wegen der in der Regel eng an der Seitenwand anliegenden trennenden Membran bei einer Spiegelung häufig nicht zu erkennen. Die Bewertung des Gynäkologen der Genitale als regelhaft sei deswegen mangels anderweitiger Umstände nicht zu beanstanden gewesen. Weiter argumentierte das Gericht, dass sich die Patientin seit langen Jahren in frauenärztlicher Behandlung befunden habe. Sämtliche früheren Bildgebungen hätten keine Anhaltspunkte für die Anomalie ergeben. Erst der gerichtliche Sachverständige habe die Anomalie der Patientin nach einer intensiven Untersuchung diagnostiziert, wobei ihm die Fallgestaltung Anhaltspunkte für eine Anomalie gegeben habe. Dass der Gynäkologe die Anomalie seinerzeit nicht entdeckt habe, sei ihm nicht vorzuwerfen.

Fazit 

Erfreulicherweise hat das OLG Hamm für den dortigen Fall klargestellt, dass bei der diagnostischen Beurteilung an den Arzt keine überzogenen Anforderungen zu stellen sind. Das Urteil ist aber eine Einzelfallentscheidung! Es bleibt dabei, dass gerade der Bereich der Befunderhebung wegen einer möglichen Beweislastumkehr zugunsten der Patientenseite von besonderer Relevanz in Haftungsstreitigkeiten ist.