Dauerbaustelle Off-Label-Use

von Rechtsanwalt und Fachanwalt für Medizinrecht Dr. Gerhard Nitz, Dierks + Bohle Rechtsanwälte, Berlin, www.db-law.de

Auch auf dem 41. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Rheumatologie im September war er wieder Thema: der Off-Label-Use. Rheumatologen sind immer wieder von Regressanträgen einzelner Krankenkassen für Verordnungen betroffen, die aus ihrer Sicht dem Therapiestandard entsprechen. Da die Rechtsprechung der Sozial­gerichte zu Off-Label-Regressen in der Tat sehr restriktiv ist, ist ihre Kenntnis zur ­Regressprophylaxe unabdingbar. 

Medizinischer Standard und Off-Label-Use

Sofern im Behandlungsverhältnis zwischen Arzt und Patient nichts Abweichendes vereinbart wurde, schuldet der Arzt dem Patienten eine Behandlung nach „Facharzt-Standard“. Dieser „Standard“ wird auch im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung geschuldet. In der Praxis wird der sehr vage Begriff des Standards überwiegend über Leit­linien der medizinisch-wissenschaftlichen Fachgesellschaften konkretisiert, die durchaus häufig auch Off-Label-Therapien empfehlen. 

Das Bundessozialgericht (BSG) hat sich aber bereits 1995 gegen eine Konkretisierung des Standards ausschließlich anhand von Leitlinien entschieden und fordert den „Nachweis der Wirksamkeit in einer statistisch relevanten Zahl von Fällen“ (Urteil vom 5.7.1995, Az. 1 RK 6/95). Grundannahme der Rechtsprechung zum Versorgungsanspruch mit Arzneimitteln ist, dass eine Arzneitherapie nur dann eine ausreichende und zweckmäßige Versorgung auf dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse gewährleistet (§§ 2, 12 SGB V), wenn ihre Wirksamkeit und Unbedenklichkeit in der betreffenden Indikation von den hierfür zuständigen Arzneimittel-Zulassungsbehörden auf der Basis der Zulassungsstudien anerkannt wurde. 

Kernaussagen der Off-Label-Rechtsprechung

Diesem Denkansatz entspricht an sich die vollständige Unzulässigkeit eines Off-Label-Use. Doch musste auch das BSG anerkennen, dass es in einer Vielzahl von Behandlungskonstellationen einen Bedarf nach einer Arzneitherapie gibt, aber keine zugelassene Behandlung zur Verfügung steht. So formuliert es als Kompromiss die heute bekannten drei Voraussetzungen an einen ausnahmsweise zulässigen Off-Label-Use: 

  • Es handelt sich um eine schwerwiegende (lebensbedrohliche oder die Lebens­qualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigende) Erkrankung, bei der
  • keine andere Therapie verfügbar ist und
  • aufgrund der Datenlage die begründete Aussicht besteht, dass mit dem betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg (kurativ oder palliativ) zu erzielen ist.

Rheumatologische Erkrankungen sind unproblematisch schwerwiegende Erkrankungen, doch folgt aus der zweiten Voraussetzung, dass ein Off-Label-Use stets nachrangig gegenüber einer zugelassenen Therapieoption ist. Nur wenn im konkreten Einzelfall alle arznei­mittelrechtlich zugelassenen Therapieoptionen bei patienteninpidueller Betrachtung ausscheiden, kommt ein Off-Label-Use in Betracht. 

Medizinische Evidenz jenseits der Zulassung

Freilich, aus dem Umstand, dass eine Arzneitherapie für eine bestimmte Indikation nicht zugelassen ist, folgt nicht im Umkehrschluss, dass sie hier nicht wirksam ist. Insbesondere in Fällen, in denen Leitlinien eine Off-Label-Therapie empfehlen, erscheint die kategorische Bevorzugung der zugelassenen Therapie vielen Ärzten medizinisch unbegründet. Doch hat dies das BSG bislang nicht beirrt; eher im Gegenteil: Die oben dargestellte dritte Off-Label-Voraussetzung wurde vom BSG zunehmend restriktiv dahingehend konkretisiert, dass eine Aussicht auf Behandlungserfolg regelmäßig nur dann vorliegt, wenn publizierte Studien vorliegen, auf deren Grundlage die Zulassungsbehörden die Zulassung erteilen würden („Zulassungsreife“, BSG-Urteil vom 26.9.2006, Az. 1 KR 14/06 R). So lehnte es trotz klarer Therapieempfehlung der DGPPN-Leitlinie einen Off-Label-Use von Methylphenidat zur Behandlung erwachsener ADHS-Patienten ab, weil die Leitlinie für sich genommen keine Zulassungsreife begründe (BSG-Urteil vom 30.6.2009, Az. B 1 KR 5/09 R). 

Ausnahmen werden nur bei akut lebensbedrohlichen – und ihnen gleichzustellenden (etwa: Erblindung) – Krankheitssituationen gemacht, was für chronische Erkrankungen wie solchen des rheumatischen Formenkreises nur selten hilft. 

Als für die Praxis wenig hilfreich hat sich auch das Instrument erwiesen, dass der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) einzelne Off-Label-Therapien bewerten und als zulässig oder unzulässig klassifizieren kann. Bis heute hat der G-BA aus der unüberschaubaren Vielzahl von Off-Label-Therapien nur 13 positiv und 12 negativ bewertet (Anlage VI AM-RL). 

Praktische Empfehlung

Diese restriktive Rechtsprechung hindert einen Vertragsarzt nicht, eine Off-Label-Therapie auf Kassenrezept zu verordnen und so die Versorgung des Patienten zulasten seiner gesetzlichen Krankenkasse sicherzustellen. Doch ist gerade bei unklarer Evidenzlage dann ein Off-Label-Regress nicht sicher auszuschließen. In solchen Zweifelsfällen empfiehlt es sich, im Vorfeld für den Versicherten einen Antrag auf Anerkennung der Leistungspflicht für den Off-Label-Use bei der gesetzlichen Krankenkasse zu stellen. Während früher einzelne Krankenkassen auf solche Anträge nicht konstruktiv reagierten und die Verantwortung an den Arzt zurückdelegierten, ist heute geklärt, dass sich die Krankenkassen inhaltlich positionieren müssen. Durch das in diesem Frühjahr in Kraft getretene Patientenrechtegesetz wurden die Krankenkassen verpflichtet, zügig, spätestens bis zum Ablauf von 3 Wochen nach Antragseingang zu reagieren. Erfolgt keine Entscheidung oder Mitteilung eines hinreichenden Verzögerungsgrundes, gilt die Leistung nach Ablauf der Frist als genehmigt (§ 13 Abs. 3a S. 1, 6 SGB V). In diesem Fall kann der Arzt seinem Patienten die Verordnung auf Privatrezept anbieten und den Patienten bei der juristischen Durchsetzung seines Leistungsanspruchs (Widerspruch, Klage) unterstützen. In eiligen Fällen hilft hier häufig ein Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung beim Sozialgericht, über den binnen weniger Wochen entschieden wird.